Myriobiblos Home

ΟΙΚΟΣ ΤΗΣ ΕΛΛΗΝΙΚΗΣ ΒΙΒΛΟΥ   Home of the Greek Bible  ΘΗΣΑΥΡΟΣ ΤΗΣ ΚΑΙΝΗΣ ΔΙΑΘΗΚΗΣ

ΒΟΗΘΗΜΑΤΑ ΜΕΛΕΤΗΣ ΤΗΣ ΒΙΒΛΟΥ

 

Elias V. Oiconomou

Bibel und Bibelwissenschaft in der orthodoxen Kirche

 

B. Grundprinzipien der orthodoxen Exegese

 

Ι. DIE INSPIRATION

Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments, die nach dem Glauben der Kirche die göttliche Offenbarung enthalten, haben einen besonderen Charakter: sie sind inspiriert, das heißt, ihre Verfasser standen unter dem charismatischen Einfluß Gottes oder des Heiligen Geistes. Sie enthalten Gottes Wort, das von Menschen niedergeschrieben wurde. Damit unterscheiden sie sich von allen anderen Werken der Weltliteratur. Während sich bis zum Mittelalter keinerlei Zweifel oder Angriffe gegen eine derartige “Inspiration” erhoben hatten, geriet diese in den Westkirchen nach der Reformation in eine immer noch andauernde Diskussion. Das Aufkommen der Textkritik und die mit der Aufklärung einsetzende Profanierung religiöser Wahrheiten, die eine Inspiration nicht mehr als eine besondere Qualität der Heiligen Schrift verstand, sondern lediglich als subjektiven Vorgang im Leser gelten ließ, machte die Auseinandersetzung mit der traditionellen Inspirationslehre nötig. Obwohl für die orthodoxe Kirche die Tatsache der Inspiration nach wie vor unantastbar feststeht, konnte sie sich dieser Diskussion nicht entziehen, zumal die theologischen Kontakte zu den Westkirchen und die ökumenischen Bestrebungen in jüngster Zeit stark zugenommen haben. Auch sie steht also vor der Aufgabe, die Inspiration biblisch zu begründen, ihr Wesen und ihren Umfang zu bestimmen und die Irrtumslosigkeit der Schrift zu erweisen.l Dies ist um so schwieriger, als die orthodoxe Kirche sich niemals offιziell zu dieser Frage geäußert hat.

 

1. Die biblische Begründung der Inspiration

Die Lehre der Inspiration beruht vor allem auf zwei Aussagen des Neuen Testaments. 2 Petr 1,20f heißt es: “Dies aber erkennt zuerst, daß keine Schriftweissagung eigenmächtige Deutung zuläßt. Denn nie erfolgte eine Weissagung nach Menschenwillen, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen von Gott her gesprochen”. Und 2 Tim 3,14-17 ergeht an den Empfänger des Briefes die Mahnung: “Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und dessen du gewiß geworden bist. Du weißt ja, von wem du es gelernt hast und daß du von Kindheit an die Heiligen Schriften kennst, die dich weise machen können zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus. Jede von Gott gehauchte Schrift ist auch nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Μann Gottes vollendet sei, ausgerüstet zu jedem guten Werk”.

Während die Stelle aus dem 2. Petrusbrief auf die Inspiriertheit der Heiligen Schriften zielt, geht es im Timotheusbrief-Zitat um die Wirkung der Heiligen Schrift. Beide Aussagen zusammengenommen ergeben die urkirchliche Inspirationslehre, an beiden Stellen werden die Schriften dem Pneuma Gottes zugeschrieben. Die Schrift kann nur deshalb im Menschen Weisheit und Tugend bewirken, weil sie θεόπvευστoς (von Gott gehaucht”) ist.

Dieses Wort θεόπvευστoς, obwohl Hapaxlegomenon in der Bibel, trifft die Grundaussage der Inspiration.2 Die Schrift wird damit als lebendiges Wort bezeichnet, das aus dem Mund Gottes hervorgegangen ist (Hauch = Wort Gottes). Es gibt also keinen Gegensatz von lebendigem Wort und totem Buchstaben, auch die in der Schrift fixierte Offenbarung ist γραφή θεόπvευστoς. Und wie die Petrusbrief-Stelle zeigt, wird zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Wort hinsichtlich seines göttlichen Charakters nicht einmal unterschieden. Beide werden auf die gleiche Stufe gestellt, an beiden hat der Geist Gottes den gleichen Anteil. Von den Kündern der Botschaft heißt es, sie hätten “vom Heiligen Geist getrieben gesprochen” (υπό πvεύματoς αγίoυ φερόμεvoι),3 und auch dem geschriebenen Prophetenwort (πρητεία γραφής) wird das Gewirktwerden durch den Geist zuerkannt.

Die Vorstellung von der Geistgewirktheit der Schrift, wie sie uns in 2 Petr und 2 Tim begegnet, ist im Alten Testament begründet. Hier erscheinen die Propheten als Werkzeuge des Geistes. Da ihr Wort als Gotteswort galt, lag es nahe, auch dessen schriftlicher Fixierung die gleiche Autorität zuzusprechen (vgl. Jer 25,13; 45,1; 51,60). Und je mehr das gesprochene Prophetenwort verstummte, um so größere Bedeutung gewann das geschriebene. Durch die Schriftlichkeit waren die Kraft und der Geist Gottes gleichsam eingefangen, und sie konnten nunmehr für alle Zeiten ihre Wirkung tun. Die Schriften des Alten Testaments werden deshalb von Jesus, von Paulus sowie von den Evangelisten und der Urkirche ganz selbstverständlich als gültige Urkunde Gottes und als geistgehauchte Weisung verstanden. Wenn also der Verfasser von 2 Petr 1,20f Schriftinspiration und prophetische Inspiration einander gleichstellt, steht er in der Tradition des Judentums der Zeitenwende.

 

2. Das Wesen der Inspiration

Die in der orthodoxen Theologie zwar schon im vorigen Jahrhundert einsetzende, aber erst in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts voll eröffnete Diskussion über die Theopneustie brachte sehr unterschiedliche Ansichten hervor, die sich im wesentlichen in drei Richtungen zusammenfassen lassen.

Die erste und zugleich älteste Theorie identifiziert die göttliche Theopneustie mit der Offenbarung. Diese Auffassung, zuerst von Κ. Oikonomos vertreten, nimmt eine dreifache Wirkung des Hl. Geistes auf den menschlichen Verfasser an: innere Bewegung, Offenbarung und Erleuchtung.4 Sehr bald allerdings warf man Oikonomos vor, er sei darin von der protestantischen Theologie des 17. Jahrhunderts beeinflußt worden, für die die Prinzipien perspicuitas, sufficientia und testimonium Spiritus Sancti galten. Gleichzeitig jedoch wurde seine zweite Geistwirkung, die Offenbarung, als eine höhere Art der Theopneustie gepriesen.5 Im Grunde bedeutet die hier vorgeschlagene Identifizierung von Offenbarung und Theopneustie nichts anderes, als daß beide gewissermaßen als zwei Aspekte derselben Sache angesehen werden. Bedenken allerdings richten sich dagegen, daß der Verfasser der Heiligen Schrift hierbei ausgeklammert bleibt und damit sowohl die richtige Niederschrift als auch -vorab- das richtige Verständnis des Geoffenbarten in Frage gestellt ist. Der Mensch spielt jedoch bei der Theopneustie eine entscheidende Rolle. Und selbst wenn man glaubt, daß es sich um besonders begnadete und der Assimilation höherer Güter fähige Menschen gehandelt hat, so kann doch das Ewige, Geoffenbarte von ihnen nicht adäquat erfaßt werden. Die Divergenz zwischen Offenbarung und deren Fixierung durch den Verfasser gehört also notwendig zur Theopneustie dazu.

Die zweite Richtung, der sich die meisten orthodoxen Theologen Griechenlands angeschlossen haben,6 unterscheidet zwischen Offenbarung, die etwas Neues mitteilt und in Jesus Christus vollendet wird, und Theopneustie, die sowohl die Leitung (επιστασία) des Verfassers als auch seinen Schutz vor Irrtum beinhaltet. Diese Auffassung wurde von Ε. Antoniadis entfaltet und nachdrücklich behauptet. Er argumentiert folgendermaßen: Da die Theopneustie Teilbegriff des Offenbarungsbegriffs ist, besteht zwischen beiden das Verhältnis vom Teil zum Ganzen. Wie die Offenbarung ist also die Theopneustie eine außerordentliche Wirkung Gottes, die etwas Neues vermittelt. Allerdings stellt sie eine unvollkommene Form der Offenbarung dar: sie geht vorüber und bringt den menschlichen Faktor der Heiligen Schrift, Ekstase und Passivität, zum Ausdruck. Der Begriff “Theopneustie” kann deshalb im vollen Sinn nur auf die Hagiographen des Alten Testaments angewendet werden, denn nur diese haben im Ζustand der Theopneustie geschrieben. Es wäre Blasphemie, ihn auch auf die Verfasser des Neuen Testaments zu beziehen, denn das würde der Vollkommenheit der Offenbarung in Christus widersprechen.7 Diesen muß vielmehr die Stärkung der seelischen Kräfte, die innere Erleuchtung und Leitung zugesprochen werden, wie es der Inspiration entspricht.8

Die dritte Richtung akzeptiert die Unterscheidung von Offenbarung und Theopneustie, versucht jedoch andererseits, beide Richtungen zu kombinieren, indem sie eine dreifache Wirkung des Heiligen Geistes annimmt: Einfluß auf den Willen, Erleuchtung des Verstandes, Ausbildung der zum Niederschreiben notwendigen Fähigkeiten.9 Diese Ansicht bezieht sich vor allem auf Origenes, der sagt: “Die Propheten Judäas, derart vom göttlichen Geist erleuchtet, daß sie gut prophezeiten, kamen in den Genuß des für sie Besseren; und was ihre Seele anbelangt, wenn ich es so sagen darf so wurden sie durch Berührung des angerufenen Heiligen Geistes scharfsinniger im Geist und glänzender in der Seele”, und: “Die menschliche Natur ist unzureichend, auf welche Weise sie auch immer Gott sucht, um ihn ungehindert zu finden, wenn ihr vom Gesuchten keine Hilfe entgegenkommt”.10 Dieses -nach Trembelas11- dynamische Verständnis von Inspiration unterscheidet in der Einwirkung des Heiligen Geistes auf den Menschen zwei Phasen: die innere Erleuchtung und die Leitung oder den Beistand bei der Niederschrift.

Aber auch diese Auffassung der Inspiration ist auf Kritik gestoßen. So spricht sich vor allem Agouridis deshalb dagegen aus, weil die Wirkung des Heiligen Geistes nicht nur die Niederschrift und die Kommunikation des Inhaltes der Offenbarung betrifft, sondern hauptsächlich deren wahre soteriologische Auslegung.12 Bevor wir jedoch darauf zu sprechen kommen, welche Rolle der Kirche bei der Schriftauslegung zukommt, ist es nötig, sich über die Funktion und das Bewußtsein der Verfasser der Heiligen Schriften klarzuwerden.

 

3. Der Verfasser der Heiligen Schrift: Gott und Mensch

Schon im Frühchristentum gab es über die Beteiligung des menschlichen Verfassers an der Entstehung einer Heiligen Schrift zwei Meinungen. Die eine billigte dem Menschen überhaupt keine Eigentätigkeit zu, die andere grenzte seine Selbständigkeit auf bestimmte Bereiche ein.13

1) Unter dem Einfluß Philons und der heidnischen Mantik glaubten viele Apologeten, die Propheten, Apostel und Evangelisten hätten κατ’έκστασιv gesprahen, das heißt nur die äußere Funktion des Schreibens wahrgenommen, ihr Bewußtsein und ihre personale Eigenständigkeit jedoch für die Dauer der Einwirkung des Heiligen Geistes verloren. Willenlos und jeder Urteilsfähigkeit bar hätten sie alles aufgezeichnet, was sie im Geiste vernahmen. Diese Auffassung vertrat vor allem Justin der Märtyrer († um 165).14 Folgenschwerer als das mantisch-ekstatische Verständnis der Theopneustie (immerhin war bereits Irenäus bemüht, den Begriff έκστασις zu vermeiden) wirkte sich für die Geschichte der Inspirationslehre der ebenfalls bereits bei den Apologeten des 2. Jahrhunderts aufkommende Vergleich des Propheten bzw. Hagiographen mit einem Musikinstrument aus, auf dem der Heilige Geist spielt. Athenagoras von Athen (um 180) war der erste, der dieses Bild benutzte: “Sie haben das gepredigt, was ihnen der Geist eingab, gleich wie ein Flötenspieler die Flöte bläst”15. Ιn diesem Zusammenhang erscheint bei den Vatern dann auch oft das Wort όργαvοv. Zum erstenmal hat es Theophilus von Antiochien verwendet; er nennt die Propheten die όργαvα Gottes und Mose das όργαvοv des Wortes Gottes.16  Hier und auch bei anderen 17 scheint das Wort όργαvοv den allgemeinen Sinn “Werkzeug” zu haben. Origenes verwendet es sogar in Kombination mit einem Musikinstrument.18 Auch wenn es sich hierbei für die Väter lediglich um ein Bild und keineswegs um eine theoretische Aussage nach Art einer Definition handelt, hat diese Vorstellung doch weitergewirkt. Schon in der Patristik begegnet man der höchst bedeutsamen Aussage, Gott oder der Heilige Geist sei der Urheber der Schrift; er diktiere dem menschlichen Verfasser, was er zu schreiben habe. Dieser wird damit zum willenlos ausführenden Organ, zum Schreiber oder Sekretär.

Diese fast mechanisch aufgefaßte Verbalinspiration, die auch von protestantischen Theologen des 17. Jahrhunderts vertreten wurde, 19 wird von der orthodoxen Exegese aus folgenden Gründen abgelehnt20:

a)  Worte profaner Schriftsteller, die die biblischen Verfasser übernehmen, können nicht deshalb, weil sie auch in der Bibel stehen, inspiriert sein.

b) Ιn der Bibel sind Aussagen enthalten, die für das Heil des Menschen bedeutungslos sind.21

c) Der religiöse Charakter der Heiligen Schrift wird verkannt, wenn man Einsichten, die der Mensch selbst gewinnen kann,22  mit denen gleichsetzt, die ihm nur durch die Offenbarung zuteil werden können.

d) Der Apostel Paulus unterscheidet selbst ausdrücklich zwischen dem, was er im Auftrag des Herrn anordnet, und dem, was er selbst empfiehlt.23 Hierher gehören auch alle persönlichen Meinungen, Gedanken, Wünsche, Sorgen, Erwartungen und Zweifel der Apostel.24

2) Für die orthodoxe Theologie steht deshalb fest,25 daß der Einfluß des Heiligen Geistes auf den Hagiographen nur partiell sein kann. Es handelt sich nicht um eine Überwältigung des menschlichen Geistes, so daß der Inspirierte, seines Verstandes und Bewußtseins beraubt, wie ein Phonograph reagierte, vielmehr war er bei vollem Verstand und freiem Willen und büßte weder seine Individualität noch seine geistigen Fähigkeiten ein.26 Nur so ist die Mannigfaltigkeit in Ausdruck und Stil zu verstehen, nur so auch die verschiedene Aufteilung desselben Stoffes (etwa bei den Evangelisten), nur so die Motivauswahl, die Divergenzen in Orts- und Zeitangaben. Die Ιnspiration kann sich also nicht auf die Form und Darstellungsweise, sondern lediglich auf den Inhalt beziehen. Diese Meinung vertritt schon Theophylaktos (11. Jh.), wenn er sagt, der Heilige Geist erleuchte den Verfasser, lasse ihn aber alles seinen persönlichen Fähigkeiten gemäß ausdrücken.27  Unbeeinflußt von der thomistischen Unterscheidung einer causa principalis und causa instrumentalis, wonach Gott der Urheber der Schrift als Hauptursache, der Mensch als Instrumentalursache anzusehen ist -eine Auffassung, die noch in der Enzyklika “Divino afflante spiritu” unter Pius XΙΙ. bekraftigt wurde-, unbeeinflußt auch von der Debatte über eine “kollektive Inspiration”, die sämtliche an der Heiligen Schrift beteiligten Verfasser mitsamt ihrem (geistigen) Milieu als inspiriert ansieht, hat die orthodoxe Kirche seit der Patristik an der Realinispiration festgehalten, die sie als innere Erleuchtung des Menschen zum richtigen Verständnis der Offenbarung und zu deren getreuer Niederschrift versteht. Ιn der Theopneustie findet zwischen Gottes Geist und Menschengeist eine zeitlich begrenzte28 Berührung statt, die weder das Bewußtsein und den Willen noch das Erkenntnis- und Empfindungsvermögen des Menschen aufhebt, sondern diese schärft und sensibilisiert. Die orthodoxe Dogmatik hat nicht den Ehrgeiz, dieses Zusammenspiel von Gott und Mensch näher zu bestimmen, vielmehr ist sie sich bewußt, daß es sich hier um ein Geheimnis handelt.

 

4. Der Umfang der Inspiration

Ιn der Frage, worauf sich die Inspiriertheit der Heiligen Schriften erstreckt, sind sich die orthodoxen Theologen lediglich in zwei Punkten einig. Sie glauben, daß die Inspiration der Offenbarung nichts Neues hinzufügt. Und sie halten es nicht für notwendig, daß die zu offenbarende Mitteilung einen neuen Gedanken enthält, der dem Verfasser vorher noch nicht bekannt war.

Im entscheidenden Punkt allerdings scheiden sich die Meinungen. Die eine Gruppe vertritt die Ansicht, die Inspiration müsse sich auf die ganze Bibel, auf jede ihrer Schriften, auf alle ihre Teile und Aussagen erstrecken und dürfe nicht auf religiöse Wahrheiten beschränkt werden; alles, was der Verfasser ausgesagt hat, ist inspiriert.29 Wie aber erklärt sich nach diesem Konzept die Inspiriertheit von Nebensächlichkeiten, historischen Ereignissen, falschen naturwissenschaftlichen Vorstellungen, zeitbedingten Aussagen? Dazu unterschied man zwei Arten von Inspiration: eine höhere für die göttlichen und eine niedere für die menschlichen Wahrheiten. Während die religiösen Aussagen direkt von Gott bewirkt sind, hat bei den menschlichen der Heilige Geist nur assistiert. Die noch verbleibenden unklaren und unvollkommenen Teile läßt man als Geheimnis stehen.30

Hier setzt die Kritik der zweiten Gruppe ein: Geheimnisvoll sind nicht die unverständlichen Ereignisse und Begebenheiten, auch nicht die Unklarheiten, sondern die in ihnen sich offenbarende Vorsehung Gottes. Was aber die einzelnen äußeren Geschehnisse selbst betrifft, den Ort und die Umstände, unter denen sie sich ereigneten, so ist die Annahme einer Inspiration durchaus nicht nötig. Jeder der Hagiographen schrieb darüber je nach seinen Erinnerungen, Überzeugungen, Quellen und Absichten.31  Die Inspiration beschränkt sich also

auf die dogmatischen und ethischen Heilswahrheiten und bezieht sich nicht auf historische, psychische und umweltbedingte Fragen und Erkenntnisse des täglichen Lebens, die die Verfasser mit ihren eigenen geistigen Kräften erlangen konnten. Es ist gerade jenem bedauerlichen und folgenschweren Irrtum, die Heilige Schrift besitze auch in allen politischen, sozialen und wissenschaftlichen Fragen absolute Autorität, zuzuschreiben, daß die Kirche bei der Wissenschaft in Mißkredit geraten ist. Schließlich hat dieser totale Inspirationsanspruch nicht nur der profanen und theologischen Forschung, sondern auch der Kirche selbst geschadet. Wenn also Aussagen der Bibel den heutigen Forschungsergebnissen widersprechen, so ist das lediglich ein Beweis dafür, daß Gott dort sein göttliches Licht nicht hat scheinen lassen.32

Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, Ewigem und Zeitlichem, Göttlichem und Menschlichem stützt sich zunächst auf Paulus, z. B. Röm 3,6.19; 1 Kor 7,10.12; 25,40; 1 Thess 4,15; Gal 3,15. Ζu solchen Stellen bemerkte schon Johannes Chrysostomos: “Wieder spricht er (Paulus) menschlich, und nicht immer kommt er in den Genuß der Gnade, sondern er darf auch von sich selbst etwas hinzufügen”33. Und auf die Frage des Anomoeus: “Die Propheten vermögen doch wohl nichts ohne Gott?” entgegnet Pseudoathanasius: “Nicht immer. Es geschieht auch, daß sie von sich aus reden. ... Die Heilige Schrift belehrt uns, daß auch die Apostel von sich aus redeten”34. Die Trennung von inspirierten und nicht inspirierten Teilen der Bibel wird jedoch auch auf den gottmenschlichen Charakter der Offenbarung allgemein zurückgeführt. So überträgt Bischof Cassian die Merkmale der Inkarnation Christi -Offenbarung Christi, Wirksamkeit des Heiligen Geistes, Entäußerung im menschlichen Leib- auf die Theopneustie und begründet damit ihren gottmenschlichen Charakter.35 So wie Gott in der Geschichte Mensch wurde, so verleiblicht sich das Wort Gottes in der Schrift mit allen dazugehörigen Konsequenzen. Wie Jesus zwei Naturen hatte, so auch die Heilige Schrift. Bei einer Trennung von geschichtlichen und zeitbedingten Teilen als nicht inspiriert und dogmatisch-ethischen Teilen als inspiriert ergibt sich jedoch das Dilemma, daß gerade geschichtliche Ereignisse wie zum Beispiel Jesu Geburt und Jesu Auferstehung zum unverzichtbaren Grundbestand der Offenbarung gehören und mithin keineswegs von der Inspiration ausgeschlossen werden können.36 So dürfte sich folgende Lösung des Problems anbieten: Gott hat die Heilige Schrift so gewollt, wie sie von den Verfassern geschrieben wurde, durch sie spricht Gott. Deshalb ist die ganze Bibel inspiriert, jedoch nicht buchstäblich-wörtlich, sondern dem Sinn nach.

Im übrigen glaubt die orthodoxe Kirche, daß der Inspirationsvorgang mit der Abfassung der biblischen Bücher nicht beendet war. Auch die richtige Exegese der Schriften bezüglich ihres soteriologischen Charakters ist nur aufgrund von Inspiration gewährleistet. Das Neue Testament ist das Ergebnis der Einwirkung des Heiligen Geistes innerhalb der Kirche, deshalb darf es nicht über die Kirche gestellt werden. Immer hat sich die orthodoxe Kirche gegen das solascriptura-Prinzip der protestantischen Kirchen gewehrt.37

 

5. Die Irrtumslosigkeit der Schrift
Eng verbunden mit der Frage nach der Abgrenzung der Inspiration ist das Problem der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift. Die Unterscheidung von inspirierten, heilsnotwendigen und nichtinspirierten, für das Heil unwesentlichen Teilen beruht ja zum Teil auf der Erkenntnis, daß in der Bibel viel Unvollkommenes, Unklares und Falsches steht. Bischof Cassian erhebt deshalb gegen die völlige Irrtumslosigkeit der Schrift zwei Einwände, einen theologischen und einen logischen. Er meint, die Wahrheit vieler biblischer Aussagen ließe sich nur im Rückgriff auf ein übernatürliches Eingreifen Gottes

erklären: “Bedeutet nicht das Behaupten dieser These, daß man von Gott ein Wunder verlangt, mehr noch, daß man ihm die Art und die Grenzen dieses Wunders vorschreibt? Gott soll tun, nicht was er für nötig erachtet, sondern was die menschlichen Forderungen verlangen” 38. Den zweiten Einwand bezieht er aus dem Gesetz des Widerspruchs, dem principium contradictionis der formalen Logik: “Zwei Aussagen, von denen die eine positiv, die andere negativ ist, können nicht gleichzeitig wahr sein”. Daraus schließt Cassian: “Diese Beobachtungen reichen aus, um zu beweisen, daß die übliche Auffassung der Inspiration, die jeden Irrtum oder jede Unvollkommenheit in einer Schrift ausschließt, nicht nur vom rein theologischen Standpunkt aus unhaltbar ist, sondern auch den Tatsachen widerspricht.”39 Diese Meinung hat sich heute in der orthodoxen Kirche weitgehend durchgesetzt.40

Wo jedoch die Grenze zu ziehen ist zwischen irrtumsfreien und nichtirrtumsfreien Teilen, läßt sich nicht ausmachen. Das hängt mit dem gottmenschlichen Charakter der Bibel zusammen. Die einen sehen im irrtumsfreien Göttlichen nur die religiösen und ethischen Wahrheiten,41 die anderen dagegen behaupten, daß eine Trennung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Bibel nicht möglich ist,42 sowenig wie die zwei Naturen Jesu zu scheiden sind.

 ______________________________

 

1. Zur Inspirationslehre s. vor allem: Agouridis, Theopneustie; Ε. Antoniadis, Grundprinzipien; ders., Theopneustie; Balanos, Theologie; Kourilas, Theopneustie; Τrembelas, Theopneustie; ders., Dogmatik 108 ff.

2. Noch heute spricht die orthodoxe Kirche deshalb von Theopneustie, während die westlichen Kirchen im Anschluß an die Vulgataübersetzung (divinitus inspirata) von Inspiration sprechen.

3.  S. dazu Jesu Verheißung des “Beistandes” Joh 14,16-18,26; 16,13-15.

4. Κ. Oikonomos, Septuaginta-Interpreten IV 59.
5. So E. Antoniadis, Theopneustie 106f.

6.  Τrembelas, Theopneustie 33 und 86; Vellas, Die Heilige Schrift 125. Die Entwicklung dieser Richtung läßt sich an folgenden Werken nachvollziehen: Kontogonis, Einführung 8; Lykourgos, Theopneustie; Rossis, System der Dogmatik 470; Balanos, Theologie 122.

7. Ε. Antoniadis, Theopneustie 137.

8.  Ebd. 147.

9. Τrembelas, Theopneustie 48 f.

10. Contra Celsum VII, 4.42 (GCS Origenes ΙΙ, 155f. 193).

11. Theopneustie 48 f; so auch E. Antoniadis, Theopneustie 150 ff.

12.   Agouridis, Theopneustie 283.

13.  Vgl. dazu E. Antoniadis, Grundprinzipien 13.

14.  Apologie 1,36 (PG 6, 385), s. auch Oratio Contra Graecos 8 (PG 6, 256 f.

15.   Legatio pro Christianis 9 (2 PG 6, 908).

16.  Ad Autol. ΙΙ 9.10 (PG 6, 1064 f.

17.  Etwa Clemens von Alexandrien, Strom. VI, XVIII, 168, 3 (GCS Clem. Alex. ΙΙ, 518) oder Theodoret, Epist. ad Rom. XΙΙ, 3 (PG 82, 188).

18.  Mattäuskommentar Fragm. aus Tom. ΙΙ (GCS Origenes XΙΙ, 5).

19.  Ιn katholische Lehrdokumente der Neuzeit wurde sie nie übernommen, wenn auch der Ausdruck “Spiritu Sancto dictante” (Leo XΙΙΙ., DS 3292)
zu einem solchen Verständnis Anlaß geben könnte.

20.  Dazu vgl. Androutsos, Dogmatik 4; B. Antoniadis, Hermeneutik 45.101.104f  Ε. Antoniadis, Grundprinzipien 13 f ders.,Theopneustie 102f.107f; Balanos, Theologie 1; Ch. Papadopoulos, Hermeneutik 85; Trembelas, Theopneustie 54; Ζolotas Johannesevangelium 1,491f.

21. z. B. 1 Tim 5,23; 2 Tim 4,13.20; Tit 1,12; Phil 23.

22.  z. B. 1 Kor 5,1; 14,26; 11,18; 2 Kor 7,7. Dazu vgl. Zolotas, Johannesevangelium 1, 492; Kontogonis, Einführung 8; Rossis, Das System der Dogmatik 469 f.

23. z. B. 1Kor 7,6.10-12.25 f; 2 Kor 2,17; Gal 3,15; 1 Thess 4,15; Rom 3,6; 6,19; 1 Tim 4,1.

24. z.B. 1 Kor 7,7 f. 16.32.35; 8,36; 2 Kor 14; 16,6 f; Phil 3,19.23; 1 Thess 2,17; Philem 22; 1 Tim 3,14.

25.  So schon Basilios der Große in seinem Jesaja-Kommentar, Prooemium § 5 (PG 30,125 B); Johannes Chrysostomos, Homilia 29 über 1 Kor 1 u. 2 (PG 61,241).

26. “Die Gnade schaltet niemals die Natur aus” (Maximus Confessor, Ad Thal. qu. 59; PG 90, 608 A).

27.  Expositio in Prophetam Oseam: “Der Geist gab es jedem Propheten ein, diese aber erzählten das, was der Geist gab, wie ein jeder es vermochte” (PG 126, 569). - Schon Origenes (Contra Celsum 7,1; GCS Origenes ΙΙ, 153 f) betonte die freie und geistige Weise der Entgegennahme der göttlichen Inspiration.

28.  Zur zeitlichen Beschränkung der Inspiration s. vor allem Ε. Antoniadis, Theopneustie 131, wo er sich auf Lykourgos, Theopneustie 305.310.342 stützt.

29.  So z. B. Rossis, System der Dogmatik 470: “Die gesamte Schrift ist inspiriert, und es ist nicht erlaubt, einen ihrer Teile auszuschließen”. Vgl. auch Trembelas, Dogmatik 1, 119 u. a.

30. So z.B. B. Antoniadis, Hermeneutik 45 f. 102 f.

31. Ebd. 45f; vgl. auch Ε. Zigabeni, Comm. in Mt XX,8 (PG 129, 369).

32. Balanos, Theologie 3.

33. Hom. XLIX in Acta Apost. (PG 60, 337); vgl. auch Hom. XXΙ (PG 60, 164).

34. Athanasius-Spuria, De Sancta Trinitate Dial. Ι, 23f (PG 28, 1152f).

35. Cassian, Studium 28.

36. Vgl. dazu Vellas, Die Heilige Schrift 128: “Und tatsächlich können die großen Ereignisse der Heilsgeschichte, die in der Offenbarung Gottes grundlegende Bedeutung haben, ... der autoritativen Gültigkeit nicht entblößt werden, so daß sie außerhalb des Inspirationsgedankens bleiben”.

37.  S. dazu Agouridis, Theopneustie 283.

38. Cassian, Studium 25.

39. Εbd. 27.

40.  Als einer von vielen sei Ε. Antoniadis, Grundprinzipien 30, genannt: “Was die natürlichen und menschlichen Dinge betrifft, so verdienen die Auslegungen sowohl der neutestamentlichen Schriftsteller als auch der Kirchenväter nicht mehr Glauben, als die Gründe Gewicht haben, die sie für ihre Behauptungen anführen, da nämlich die naturgeschichtlichen und anderen Wissenschaften seit dem Zeitalter der Apostel und Kirchenväter wesentlich fortgeschritten sind”.

41. Balanos,Theologie 4 u. a.

42. Androutsos, Dogmatik 5 u. a.

 

Next chapter


 

Treasury of the Fathers

ΘΗΣΑΥΡΟΣ ΤΩΝ ΠΑΤΕΡΩΝ

Πολυτονική γραμματοσειρά

Οἶκος τῆς Ἑλληνικῆς Βίβλου

Top of Page

ΕΠΙΚΟΙΝΩΝΙΑ