Prof. Dr. Konstantin Nikolakopoulos, München
Offenbarung und Vernunft
Der orthodoxe Glaube als Gegenstand der akademischen Forschung und Lehre
Grundsätzliche Gedanken
Anfangs möchte ich mich kurz mit manchen Verdeutlichungselementen des schwerwiegendsten Begriffes meines Themas befassen, nämlich des Begriffes „Glaube“. Um den Glauben handelt es sich letzten Endes, wenn wir uns bezüglich des Verhältnisses zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Vernunft den Kopf zerbrechen; er spielt eine der zentralen Rollen im Prozess der wissenschaftlichen theologischen Forschung und der systematisch-pädagogischen Vermittlung von Kenntnissen im Bereich der Theologie. Der Glaube ist tatsächlich einer der wichtigsten Bestandteile der Orthodoxen Kirche und im orthodoxen Verständnis bezieht er sich automatisch und selbstverständlich auf seinen wesentlichen Inhalt, mit anderen Worten: auf die durch Jesus Christus den Menschen geoffenbarte Wahrheit Gottes. Genau diese göttliche Offenbarung (in erster Linie durch die historische Menschwerdung der zweiten Person der Hl. Trinität) versucht der endliche, irdische Mensch zu erfassen und zwecks seiner Erlösung sich eigens zu machen. Bei diesem schwierigen Werk des Verständnisses der Offenbarung Gottes steht aber auch der Hl. Geist als kräftige Erleuchtungsquelle und Tröster auch nach dem Pfingstereignis weiter den gläubigen Christen bei. Der frühere orthodoxe Erzbischof von Karelia und ganz Finnland Paul schrieb dazu: „Die verheißene Gabe ‚der ganzen Wahrheit’ kam auf die Kirche herab bei der Ausgießung des Heiligen Geistes, aber es dauerte Jahrhunderte, das ganze Zeitalter der Kirchenväter hindurch, um dieses Ereignis mit den begrenzten Mitteln des menschlichen Verstandes zu definieren(1).“
Die durch die Kirche ermöglichte, bewusste Befassung des Menschen mit der göttlichen Offenbarung, etwas, was auch mit dem Begriff „Theologie“ in seiner breiten Bedeutung korrekterweise wiedergegeben werden kann, hat eine zweifache Substanz: der Zugang zum Göttlichen kommt einerseits durch das Erlebnis des Glaubens und zweitens durch das Studium der theologischen Texte zustande. Die beiden Zugangsweisen dürfen weder als voneinander völlig unabhängig und jeweils autark und an sich ausreichend noch als sich widersprechend, sondern als miteinander vollständig ergänzend angesehen werden. Man könnte die Theologie als die Summe dieser zwei Faktoren, des Erlebnisses (Glaube) und des Studiums (Wissenschaft) betrachten. Ein glaubenloses Studium des Christentums oder der Kirche kann keine Theologie, sondern eine Religionswissenschaft sein. Bei der Theologie haben wir die Zusammensetzung (und nicht die Identifizierung) von Glaube und Studium.
Die erste Art und Weise der „Berührung“ des Göttlichen erfolgt, wie gesagt, durch das Erlebnis des Christen in der Kirche und im liturgischen Leben der Kirche. Dieses Erlebnis darf sich aber nicht nur auf den Vollzug der verschiedenen Gottesdienste und ihre Dauer beschränken. Die Orthodoxie hat einen breiteren Erfahrungscharakter, der, wie wir im Leben der Heiligen und in der Lehre der Kirchenväter und -mütter sehen, sich auf das ganze Leben des Gläubigen erstreckt. Orthodoxes Erlebnis bedeutet, dass man jeden Moment seines täglichen Lebens christlich verbringt.
Für uns wäre nun die zweite Dimension der Annäherung an das Göttliche von Interesse, nämlich das Studium der glaubensbezogenen Texte. An diesem Punkt ist selbstverständlich die systematische Auseinandersetzung mit den Texten, anders gesagt: die wissenschaftliche Erforschung des durch die Jahrhunderte hindurch überlieferten Glaubens gemeint. Es ist auf der anderen Seite gewiss bekannt, dass unter den heutigen modernen Gegebenheiten im Rahmen der vielen Wissenschaften die menschliche Vernunft als das entscheidende Werkzeug jedes Studiums gilt. Charakteristisch ist sowieso in den letzten Jahrhunderten bei der Entstehung der Wissenschaften der historische Übergang vom „Mythos“ zur „Vernunft“ (λόγος). Im Bereich der Wissenschaften ist also das mythische Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit aufgegeben worden. Daher ist charakteristisch angemerkt worden: „Mythisches Denken ist der Gegenbegriff zum wissenschaftlichen Denken(2).“
Weil sich nun die Wissenschaft ausschließlich der menschlichen Vernunft bedient, und weil auch die göttliche Offenbarung als Inhalt unseres Glaubens eine andere weitere Dimension als diese unseres endlichen Verstandes erschließt, stellt sich automatisch die Frage des Verhältnisses zwischen der Theologie und der Wissenschaft, zwischen dem Glauben und der Vernunft. In wie weit können wir von der Theologie als Wissenschaft reden?
Der bisher entworfenen Konzeption folgend, werde ich mich im nächsten Teil meiner Vorlesung dem Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft und anschließend der sich ergebenden Problematik der Theologie als menschliche Wissenschaft zuwenden. In einem weiteren Schritt will ich mich mit dem Charakter der heutigen akademischen Theologie befassen und dazu das m. E. passende Bild einer orthodoxen theologischen Forschung skizzieren. Ich werde dann mein Referat mit manchen abschließenden Überlegungen abrunden.
Glaube und Vernunft
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft oder Intellekt gehört zu den Wurzeln der Geschichte des europäischen Geistes und hat mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen. Das Wort für die Vernunft „Λόγος“ stammt ursprünglich aus dem Altgriechischen, während für unseren inhaltlichen Zusammenhang das Wort Glaube „Πίστις“ wohl im jüdisch-christlichen Bereich zu finden ist. Auf der anderen Seite war aber weder der vernünftige Altgrieche ungläubig noch projizierte das Alte Testament einen Glauben ohne Vernunft und Erkenntnis (2), wie der orthodoxe Dogmatologe Megas Farantos trefflich bemerkt. Auf dem Weg des Menschen zum Selbstbewusstsein geht der Glaube der vernünftigen Kenntnis voran. Der Glaube fungiert in dieser Phase als das erste Gefühl wesentlichen Vertrauens zur Realität, ohne sie durch die Logik ausführlich zu ergründen. Der Glaube hat Priorität gegenüber der Vernunft, die dennoch auf dem Glauben aufbaut. Der Glaube begleitet den Menschen bei jedem seiner Akte und Fortschritte und wird jedoch durch die Fortschritte der Menschheit nicht aufgehoben. Daher handelt es sich bei diesen beiden Dimensionen nicht um zwei widersprüchliche Größen.
Der christliche Glaube bildet keinen Gegensatz zum realen, geschichtlichen Lauf der Menschheit. Dass „das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte“ (Joh 1,14), zeigt genau den konkreten geschichtlichen Charakter des göttlichen Eingriffes an einem konkreten Moment der menschlichen Geschichte. Einerseits haben wir also bei der Offenbarung Gottes die göttliche Dimension, andererseits bei derer Niederschrift in den Texten der menschlichen Geschichte erscheint der menschliche Faktor, der ebenfalls sehr ernst zu nehmen ist. Aber das Göttliche und das Menschliche bilden weder in der Offenbarung Gottes noch in der von den Menschen betriebenen Theologie Gegensätze, sondern eine Einheit von zwei Teilen, die man weder trennen noch vermischen darf , wie der orthodoxe Theologe Konstantinos Papapetrou charakteristisch unterstreicht.
Vom bisher Gesagten ergibt sich also, dass die Heranziehung der Vernunft im Rahmen des menschlichen Verständnisses der göttlichen Offenbarung begründbar und gerechtfertigt ist. Man könnte sogar behaupten, dass aufgrund ihres Charakters (erklären) und ihres Zieles (interpretieren) die Theologie zu einer hermeneutischen Wissenschaft wird. Die Theologie, als das ständige Bemühen des Menschen zum Verständnis der göttlichen Wahrheiten, ist grundsätzlich ἑρμηνεία (Auslegung). Daher wird sehr treffend gesagt, dass die Hermeneutik im Grunde genommen das Wesen der Theologie ist (3).
Die Theologie als Wissenschaft
Von allen anderen Akten des Menschen wird die Wissenschaft durch ihre eigene Methode gekennzeichnet. Wie auch der alte Philosoph Platon bemerkt hatte (3), könnte die Wissenschaft als die Forschung eines konkreten Gegenstandes mittels einer konkreten Methode bestimmt werden. Deshalb bezieht sich die Frage einer Wissenschaft letzten Endes auf die Frage ihrer Methode, die sich im Rahmen der Entwicklung und Veränderung der Situation des menschlichen Geistes entsprechend entwickelt und verändert.
Es ist erwähnenswert, dass Aristoteles von drei Arten oder „Genres“ der Wissenschaften spricht, nämlich von der physischen (natürlichen), der mathematischen und der theologischen Wissenschaft, wobei er die letzte zu den besten zählt (3). Es handelt sich um eine sehr beachtenswerte Bemerkung, die genau die seit der alten Zeit besondere Stellung der Theologie aufzeigt. Abgesehen davon gliedern sich aber in der heutigen akademischen Landschaft die Wissenschaften in „Natur-„ und „Geisteswissenschaften“ mit entsprechend einschlägigen Arbeitsmethoden. Während die Naturwissenschaften die gegebene Wirklichkeit zu erklären versuchen, setzen die Geisteswissenschaften als ihr Ziel, diese Wirklichkeit mental und intellektuell zu verstehen.
Aufgrund einer solchen Differenzierung wird die Theologie in allen Universitäten der Welt zu den Geisteswissenschaften gezählt. Aus orthodoxer Sicht sollte man jedoch erneut die Frage stellen: Kann (oder darf) die Theologie eine akademische Disziplin im Sinne des profanen Verständnisses von Wissenschaft sein? Und die Antwort der Orthodoxie sollte lauten: Ja, aber nicht nur!
Folgende Überlegungen wollen die Unklarheit der oberen relativen Bejahung verdeutlichen: Wenn die Wissenschaften die gegebene weltliche Realität zu erklären oder zu verstehen versuchen, dann, wenn die Theologie als eine solche Wissenschaft betrachtet wird, bezieht sie sich auf die weltliche Realität. Und umgekehrt: Wenn die Theologie sich mit einer anderen „Realität“ jenseits dieser Welt befasst, dann kann sie keine Wissenschaft im akademischen Sinne sein. Selbstverständlich bedeutet der Terminus Theologie (Θεολογία) etymologisch das Wort über Gott. Der Hl. Augustinus charakterisiert entsprechend dieser Etymologie die Theologie als „de divinitate rationem sive sermonen“(3). Wenn also Gott eine weltliche Realität darstellen würde, könnte er wohl der Gegenstand einer Geisteswissenschaft sein. Wir alle wissen aber, dass Gott an sich per definitionem keine durch die menschlichen Sinnen zu beobachtende weltliche Realität ist, daher kann er durch keine Natur- oder Geisteswissenschaft erforscht werden.
Die Frage, ob die Theologie eine akademische Wissenschaft ist, hat dementsprechend mit der grundsätzlichen Frage „Was ist Gott?“ zu tun. Dazu hat uns die patristische Theologie einen sehr trefflichen theologischen Topos überliefert, nämlich den Apophatismus, der ständig die Unzugänglichkeit Gottes hervorhebt (3). Es geht dabei um die berühmte Differenzierung zwischen dem Wesen und den Energien (Wirkungen) Gottes. Diese Unterscheidung betont die Unzugänglichkeit des Wesens Gottes dem menschlichen Verstand gegenüber –und entsprechend jeder akademischer Wissenschaft- einerseits und das erfahrbare Handeln Gottes in der menschlichen Geschichte andererseits. Genau diese zweite Dimension der Heilsgeschichte kann der Gegenstand einer theologischen Forschung sein. Die Wissenschaft kann Gott selbst nicht erforschen, da Gott keine weltliche Gegebenheit darstellt. Gegenstand der theologischen Forschung ist also nicht das Wesen Gottes, sondern die äußeren Ausdrucksweisen seiner Offenbarung in den alten Texten, im Laufe der Kirchengeschichte, in der Tradition der Kirche und in den übrigen Zeugnissen der christlichen Kirche.
Die universitäre Theologie
Aufgrund der oben angeführten Verdeutlichungen über den tatsächlichen Gegenstand der akademischen Theologie und unter Berücksichtigung der vor kurzem erwähnten Voraussetzungen über die Bedeutung der Theologie können wir die Erforschung des christlichen Glaubens an den Universitäten ohne Bedenken bejahen. Auf der anderen Seite dürfen wir uns aber mit der heutigen allgemeinen Entwicklung der Theologischen Wissenschaft nicht zufrieden geben. Die heutzutage weltweit verbreitete „theologische Wissenschaft“ entwickelt sich unter dem Einfluss der akademischen Geisteswissenschaften, in denen die Vernunft des aufgeklärten Menschen die ausschließliche Rolle spielt. Die moderne und zeitgenössische universitas benutzt und erkennt die sehr hilfreiche aber manchmal einseitige historisch-philologische und nicht immer treffende historisch-kritische Forschungsmethode an, damit sie ihre wissenschaftlichen Ergebnisse begründen kann.
Die moderne akademische Theologie weltweit hat sich zu einer Interpretationswissenschaft entwickelt, die ausschließlich aufgrund des sogenannten „Historismus“ (3) arbeitet. Damit ist die Theologie zu einer rein intellektuellen Forschung (hauptsächlich über manche Texte der Vergangenheit) geworden. Man stellt beispielsweise in den neueren Doktor- und anderen Forschungsarbeiten fest, dass alle, als nicht streng „vernünftig“ gehaltenen Sachen als fremd zu der Wissenschaft abgestempelt werden. Wie extravagant die Unterscheidung des heutigen wissenschaftlichen Verständnisses zum ursprünglichen Geist und Buchstabe der Alten Kirche ist, ergibt sich aus folgender spekulativer Überlegung: Falls sich der Apostel Paulus in unserer modernen Zeit mit irgendeinem seiner allerdings hoch theologischen Briefe um den Doktortitel (nicht honoris causa) bewerben würde, hätte er höchstwahrscheinlich bei allen Theologischen Fakultäten der Welt kein Glück. Aber auch wenn er zufälligerweise aufgrund seiner anerkannten Autorität die Doktorprüfungen bestehen würde, würde jeder Brief von ihm, der unter dem Namen eines anderen Autors als Doktorarbeit vorgelegt würde, als wertlos zurückgestellt(3).
Die orthodoxe theologische Forschung
Die Orthodoxe Theologie bejaht selbstverständlich die wissenschaftliche Forschung des Glaubens, seiner Quellen und seiner Entfaltungen im Rahmen der modernen Methodenlehre und der historischen und philologischen Methode aber sie bleibt da nicht stehen. Der Theologe als Wissenschaftler muss zwar ganz klar auch ausgezeichnete philologische Arbeit bei seiner Beschäftigung mit wichtigen Texten des Christentums leisten. Er ist aber kein einfacher Philologe, weil er mit diesen Texten nicht nur streng philologisch, also trocken „wissenschaftlich“ umgeht, sondern weit mehr darüber hinaus. Der Theologe macht sich seinen Namen als Theologe bewährt, weil er bei seiner Forschung außerdem als eine Ganze Persönlichkeit an der Offenbarung Gottes, die in den von ihm behandelten Texten gezeugt wird, lebendig teilnimmt.
Diese für die Orthodoxie unentbehrliche Teilnahme an der erlösungsbringenden Offenbarung Gottes sollte in allen bekannten Disziplinen der theologischen akademischen Wissenschaft geschehen. Im Bereich der Biblischen Theologie sollte der orthodoxe Exeget sein gottgefälliges Leben mit seiner Schriftauslegung in Verbindung bringen in der Absicht, sich mit dem in den Texten geoffenbarten Gott zu treffen und sich zu heiligen. Auf der selben Weise sollten auch die orthodoxen Theologen aus jeweils der Historischen, Systematischen und Praktischen theologischen Disziplin durch ihre Forschungen nicht nur rein mentale Ergebnisse vorbringen, sondern sich um das Verständnis und der persönlichen Teilhabe an der göttlichen Offenbarung bemühen.
Unter den selben Ansätzen sollten die orthodoxen Professoren die Theologie als Wissenschaft (aber nicht nur) ihren Studierenden nahe bringen. Nicht nur die trockene philologische und streng historische Arbeitsweise, sondern auch die Eröffnung der weiten spirituellen Dimensionen der Orthodoxie sollten ihre universitäre Tätigkeit kennzeichnen. Nicht nur die korrekte Bearbeitung des Textes und der notwendigen Fußnoten, sondern auch die lebenswichtige Teilnahme am liturgischen und sakramentalen Leben unserer Kirche sollte den Studierenden als Wegweiser mitgegeben werden. Die trockene Wissenschaft der Theologie, so wie sie heutzutage mancherorts verstanden wird, führt zur oberflächlichen Berührung des Christentums und im besten Fall zur reinen Religiosität. Im orthodoxen Verständnis sollte jedoch eine solch eventuelle Religiosität durch die tiefe Kirchlichkeit der Person ersetzt werden (4). Dies wäre ein wesentliches Element der orthodoxen Ausbildung in einer schwierigen Zeit der andauernden Säkularisierung unseres Lebens (4).
Anschließende Überlegungen
Die Erforschung des Glaubens und darüber hinaus das Studium der Orthodoxen Theologie müssen nicht nur als Ausübung eines Berufes oder als eine Vorbereitung darauf verstanden werden. Vielmehr und in erhöhtem Maße zielt das Theologiestudium auf weitere Aspekte des persönlichen Lebens ab, wie z.B. die spirituelle Erleuchtung des Christen oder den gottgefälligen Dienst in der Kirche als Geistlicher oder als Laientheologe. Die Kirche als eine gottmenschliche Institution setzt das Heilswerk des fleischgewordenen Logos Gottes fort. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Theologie und das Theologiestudium, als Vorbereitung auf den Dienst dieses Heilswerkes, sind keine genuin intellektuelle Angelegenheit, sondern ganz deutlich mit dem Gebet und generell mit dem liturgischen Leben der Kirche verbunden.
Nach orthodoxem Verständnis haben die theologische Wissenschaft und Forschung die Aufgabe, den überlieferten Glauben der Alten Kirche zu reflektieren und nach Möglichkeit durch Erläuterung den Gläubigen deutlich zu machen. Zugleich aber stehen Wissenschaft und Forschung im Dienst dieses Glaubens, wobei wir hier die orthodoxe Antwort auf das bereits angesprochene, seit der Antike bekannte Problem des Verhältnisses zwischen Glauben und Forschung bzw. menschlicher Erkenntnis haben. „Bereits in der Alten Kirche hat man über diesen Sachverhalt intensiv nachgedacht und es wurden drei Alternativen aufgestellt: a) „glaube und forsche nicht“ (πίστευε καὶ μὴ ἐρεύνα); b) „forsche und glaube“ (ἐρεύνα καὶ πίστευε); c) „glaube und forsche“ (πίστευε καὶ ἐρεύνα). Während die erste für einen blinden und unreflektierten Glauben plädiert und die zweite den Glauben praktisch ausschaltet, stellt die dritte Alternative den goldenen Weg der Theologie dar. Denn sie unterstreicht den Primat des Glaubens und gleichzeitig betont sie den unerlässlichen Nutzen der Erkenntnis. In diesem Sinne dürfen die theologische Wissenschaft und Forschung die wesentlichen Inhalte des Glaubens (z.B. den Inhalt des Glaubensbekenntnisses) nicht in Frage stellen oder durch pseudowissenschaftliche Erkenntnis verändern bzw. erweitern oder gar ersetzen (4).“
Gemäß dem akademischen Verständnis muss der Bezug des Wissenschaftlers als solcher zu der realen Wirklichkeit rein wissenschaftlich, also rein intellektuell sein. Der Bezug aber des wahren Theologen zu Gott kann nicht die trockene „wissenschaftliche“ mentale Forschung, sondern eine existenzielle Beziehung zum Göttlichen sein. Es geht hierbei nicht nur um richtige „wissenschaftliche“ Ergebnisse, welche die menschlichen Kenntnisse voranbringen, sondern auch um eine persönliche Beziehung zu Gott, um Glaube oder Unglaube, um Rettung oder geistliches Verderben, um Rechtfertigung oder Bestrafung. Wahrer Theologe ist nach orthodoxem Verständnis derjenige, der letzten Endes sich nach der Erlösung sehnt. Daher besteht die wahre Theologie nicht einfach in den „wissenschaftlichen„ Kenntnissen, sondern in der Rückkoppelung der Forschung mit dem kirchlichen Leben, mit dem Gebet, mit der Liturgie. Diese enge Verflechtung von Theologie und Gebet drückt Evagrios Pontikos in folgenden Worten aus: „Wenn du Theologe bist, wirst du wahrhaftig beten und wenn du wahrhaftig betest, bist du Theologe (4).“ In dieselbe Richtung bewegt sich auch der große Kirchenhistoriker des 4. Jahrhunderts Eusebios von Kaisareia, wenn er schreibt, dass „die Theologen das prophetische Rauchopfer darbringen, indem sie Gott durch die zu ihm emporsteigenden Gebete die wohlriechende Frucht der vollkommenen Theologie darbieten (4)“.
Die besondere Spiritualität, die mit Recht als generelles Kennzeichen der Orthodoxie gilt, sollte auch die akademische orthodoxe Theologie ständig begleiten. In unseren ökumenischen Zeiten wird die Orthodoxe Theologie dazu aufgerufen, den anderen Christen ihre echte Identität zu zeigen, welche die Annäherungsversuche der christlichen Kirchen sicherlich bereichern könnte. Die ökumenische Verständigung bildet letzten Endes den brennenden Wunsch aller Christen zumindest in diesen letzten Jahrzehnten.
Anmerkungen
1. Vgl. K. Papapetrou, Εἶναι ἡ Θεολογία ἐπιστήμη; Athen 1970, S. 9.
2. Vgl. dazu k. Papapetrou, Ἡ οὐσία τῆς Θεολογίας, Athen o.J., S. 7.
3. Weiteres über die heute international anerkannten vier theologischen Disziplinen der universitären Theologie siehe bei K. Nikolakopoulos, Das Studium der Orthodoxen Theologie an der Universität München. Die Schritte eines gewichtigen Unterfanges, in: K. Nikolakopoulos, A. Vletsis, Vl. Ivanov (Hgg.), Orthodoxe Theologie zwischen Ost und West. FS für Theodor Nikolaou, Frankfurt a.M. 2002, S. 707-716.
4. Evagrios Pontikos, De oratione 60, in: PG 79,1180 B.
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