Panagiotis Boumis
Die authentische Überlieferung der Kirche
Das Kriterium der Orthodoxie
3. Die authentιschen »Zeugnisse«
Íun kann aber diese unfehlbare Urteilsinstanz nicht ständig, etwa täglich, zusammentreten und Entschlüsse fassen. Aber auch, wenn sie ununterbrochen tagte, wäre es dennoch unmöglich, daß sie sich mit allen Themen beschäftigte, daß sie in allen persönlichen Angelegenheiten und privaten Problemen der Kirchenmitglieder eine Antwort gäbe. Was sollen wir also tun? Wie können wir bei jeder Frage, die uns beschäftigt, wissen, was richtig ist? Æu diesem Zweck hat uns die Kirche der Ökumenischen Synoden unfehlbare Glaubensund Lebensregeln anvertraut, sowohl für die Theorie als auch für die Praxis. Sie hat uns fürsorglich die unfehlbaren Urteilsmaßstäbe übergeben, damit wir sie jederzeit zur Verfügung haben, sie zu Rate ziehen können, wann immer wir wollen, wann immer wir sie brauchen.
Diese unfehlbaren Kriterien sind die Bibel (ÁÔ und ÍÔ), die heiligen Schriften und die Entscheidungen, dogmatischen Bestimmungen (üñïé) und Kanones der Ökumenischen Synoden, die von ihnen festgelegt und bestätigt wurden.
Án diesem Punkt wollen wir, was die Entscheidungen der Ökumenischen Synoden betrifft, einem Einwand vieler Christen, die der Orthodoxen Kirche angehören, zuvorkommen. Während sie nur zu gern bereit sind, die dogmatischen Bestimmungen, die Symbole des Glaubens, als unfehlbar zu akzeptieren, wehren sie sich dagegen, auch die Kanones der Kirche als unfehlbar anzunehmen. Diese, sagen sie, würden nicht die absolute Autorität der dogmatischen Bestimmungen besitzen.
Darauf ist folgendes zu antworten: Die Begriffe »Bestimmungen« und »Êanones« werden in den Beschlüssen der Ökumenischen Synoden oft wechselnd gebraucht und ergänzen einander. Diese Tatsache entkräftet alle Argumente, die sich für eine scharfe Trennung zwischen Bestimmungen und Kanones aussprechen. Außerdem ist es nicht einzusehen, daß eine dogmatische Bestimmung unfehlbar sei, eine andere Entscheidung, Lebensregel etwa, nicht, da doch beide vom selben Organ, aus derselben Quelle, oft sogar von ein und derselben Ökumenischen Synode stammen. Die Ökumenischen Synoden selbst bestätigen uns, daß ihre Kanones göttlich und authentisch sind. Deshalb ordnen sie auch die unbedingte Einhaltung ihres gesamten Inhalts an und verbieten jede Verfälschung und Veränderung<3>.
Die Gesamtheit dieser unfehlbaren Kriterien macht somit die kirchliche Überlieferung aus, die eigentliche und wahre kirchliche Tradition. Denn sie ist die Überlieferung der ganzen Kirche, nicht nur eines Teils von ihr. Nicht alle Überlieferungen aber, die möglicherweise in der Kirche vorhanden sind, verdienen die Bezeichnung »kirchliche Überlieferung«. Das gilt zumindest so lange, als sie nicht die Billigung und Bestätigung der gesamten Kirche haben.
Aus diesem Grund verdienen nur jene Kanones die Bezeichnung von kirchlichen Gesetzen, die von einer Ökumenischen Synode erlassen oder bestätigt wurden, d.h. von der ganzen Kirche. Alle anderen der kanonähnlichen Verordnungen, die etwa von einer örtlichen Synode oder einem Vertreter der Kirche erlassen wurden, können nicht kirchliche Gebote (κανόνες) genannt werden, da sie nicht die oberste kirchliche Zustimmung haben.
Die wahren Kanones, im wirklichen Sinne des Wortes Kanones, die uns das Richtige, den rechten Weg weisen<4>, sind nur die Kanones der Ökumenischen Synoden. Alle anderen ähnlichen Verordnungen können nicht als solche bezeichnet werden und verdienen diese Bezeichnung nicht, solange sie nicht von einer Ökumenischen Synode bestätigt werden.
Die oben angeführte offizielle und wahre kirchliche Überlieferung stellt somit die Grundlage der Orthodoxie, des rechten Glaubens, der Wahrheit, des Wissens und des Lebens dar. Sie ist die »Genauigkeit« (áêñßâåéá) in der Kirche. Sie müssen wir erkennen, ihre Dogmen glauben, ihre Kanones anwenden und diese Wahrheit im Leben verwirklichen. Mit anderen Worten, diese áêñßâåéá haben wir einzuhalten, zu bewahren, ihr müssen wir folgen.
Sie stellt auch das Kriterium dar, wonach Gedanken, Ideen, Worte und Handlungen, und unser und anderer Ôun und Leben zu beurteilen sind, wenn man so objektiv wie möglich sein will. Andernfalls gerat man in die Gefahr, in Ungerechtigkeit und Subjektivismus zu verfallen,» aufgeblasen in seinem fleischlichen Sinn« (Êï1 2,18). Und wenn wir sagen, daß wir mit ihrer Hilfe über Worte und Taten der anderen urteilen, so meinen wir nicht nur die des einfachen Volkes und der einfachen Christen, sondern auch die der Priester und Hierarchen, des Patriarchen, aller Lebenden und aller Verstorbenen also.
NOTES
1.- Verfasser ist Professor an der Theologischen Fakultät der Universität. Ziel seines Beitrags ist es, das orthodoxe Verständnis der kirchlichen Paradosis zu vermitteln und einige Konsequenzen daraus für den ökumenischen Dialog aufzuzeigen. Anm. der Red.
2.- »Jenseits der organischen Rangfolge und obersten Verwaltungsstelle der Orthodoxen Kirche, welche die Ökumenische Synode ist, hat das wahre kirchliche Gewissen die letzte Entscheidungsgewalt über deren ökumenische Autorität, ohne über dem Rang der Ökumenischen Synode zu stehen« (Á. Alivisatos, Das Gewissen der Kirche, in: Wiss.Jahrbuch der Theol.Fak. der Univ. von Athen, 9 [1953-1954] 58-59). «Der ökumenische Charakter der Synode besteht nicht in der Teilnahme aller Bischöfe der christlichen Gemeinschaft, sondern in der Übereinstimmung der anwesenden, der vertretenen mit den abwesenden Bischöfen und den verschiedenen Gliedern der Kirche, wie auch in der nachträglichen Annahme ihrer Lehren von den übrigen Bischöfen und der ganzen Kirche, die als wahr befunden wurden" (Joh. Karmiris, Orthodoxe Ekklesiologie, Dogmatik, Teil V, Athen 1973, S.674).
3.- Siehe Êan.1 der 4., Êan.2 der 6., und Êan.1 der 7.Ökum.Synode. Mehr dazu: P.Boumis, Autorität und Kraft der hl.Kanones, Athen 1989<4>, S.12 f.
4.- Das griechische Wïrt für Regel »κανών" bedeutet ursprünglich: Stab; Lineal, mit dem wir eine gerade Linie ziehen, oder umgekehrt die Geradheit einer Linie überprüfen. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Wort auch Bestimmung oder Gesetz, allgemein alles, was als Vorbild oder Leitfaden zur richtigen Ausführung einer Handlung dient, oder als Kriterium zur Kontrolle ihrer Richtigkeit.
5.- Vgl.Ps. 118, 14. 138. 144. Siehe auch Êan.1 der 7.Ökum.Synode.
6.- Natürlich hat das Wort »einfach« hier nicht die Bedeutung einer Mißbilligung des Konservativen. Konservativ sind, wie wir gesehen haben, jene, die alle in der Kirche vorhandenen. Überlieferungen bewahren wollen. Aber diese Tendenz muß mit Vorsicht betrachtet werden, weil sie zwei widersprüchliche Elemente in sich birgt: ein positives und ein gefährliches. Positiv ist, daß sie alle schriftlichen und mündlichen Überlieferungen bewahren will, in denen zum gegebenen Zeitpunkt die Kirche die Lösung eines Problems finden kann, oder zumindest den Ánstïß zu einer solchen Lösung. Sie schließt aber auch die Gefahr in sich, den Menschen zu überfordern; denn sie will das ganze Gewicht dieser Überlieferungen tragen. So geschieht es manchmal, daß diese Überlieferungen in Widerspruch zueinander geraten, daß sie Christen erschüttern und Ánstïß erregen. Verlassen wir also den Anspruch, daß diese Überlieferungen unbedingt und ausnahmslos von allen Christen befolgt werden müssen; denn damit würden »schwere und untragbare Gewichte auf die Schultern der Menschen« (vgl. Mt 23, 4) gelegt.
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