Panagiotis Boumis
Die authentische Überlieferung der Kirche
Das Kriterium der Orthodoxie
2. Der unfehlbare Gesetzgeber
Nur der, der alles geschaffen hat, der Schöpfer des Weltalls, der allwissend und überall anwesend ist, der umfassende Kenntnis aller Dinge hat, des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen, nur er, der unveränderlich, unbeeinflußt und unparteiisch ist, nur er kann ein unfehlbarer Gesetzgeber und Richter sein. Und für uns Christen ist dies Gott. Zum Guten steht es also für uns nur dann, wennéô wir Gott fragen und Er uns antwortet. Nur wenn Gott auf die Erde »herabsteigt«, können wir Gewißheit haben, daß wir eine Ántwïrt erhalten, ein unfehlbares, richtiges und unverfälschtes Urteil.
Wann aber und wie könen wir Gewißheit haben, daß Gott wirklich auf diese oder jene Frage geantwortet hat, daß er also auf die Erde »herabgestiegen" ist? Glücklicherweise ist dieses Problem für uns orthodoxe Christen wohlgeordnet und geregelt. Wir müssen uns nur darum bemühen, dies »uns und den anderen« zugänglich und bewußt zu machen.
a) Wir erkennen, daß Gott durch Moses und die Propheten wie durch andere erleuchtete Männer des Alten Testaments gesprochen und Sein Zeugnis, Seine Gebote, Seine Gesetze, Sein Urteil bekannt gemacht hat. Wir sollten uns hier an die Antwort Abrahams (und durch ihn Gottes Antwort) in der Parabel vom Reichen und dem armen Lazarus erinnern: »Sie haben die Worte des Moses und der Propheten. Sie brauchen nur darauf zu hören« (Lk 16, 29). Er gibt uns diesen Hinweis, denn jenes Wort Gottes ist wahr. »Dein Wort ist die Wahrheit« (Joh 17, 17), bestätigt uns Jesus Christus. Und diese Wahrheit, dieses Vermächtnis (Depositum) des Alten Testaments hat die christliche Kirche übernommen und bewahrt.
b) Ebenso wissen wir, daß Gott selbst auf die Erde »herabgestiegen" ist, daß das Wort Gottes, Jesus Christus, »wie ein Knecht« (Phil 2,7) gekommen ist und uns die Wahrheit, die vollkommene, erneuerte Wahrheit gebracht hat; denn Er ist
»der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Aber um auf die menschliche Unvernunft hinzuweisen, sagt er: »Íun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt, die ich von Gott gehört habe« (Joh 8, 40). Diese Wahrheit hat Er den Aposteln übergeben und diese wiederum ihren Nachfolgern, den Bischöfen der Kirche (die apostolische Überlieferung).
c) Nach der Auffahrt des Herrn in den Himmel sendet Gott den Tröster, »den Geist der Wahrheit (Joh 14,16-17 und 15,26), auf die Kirche herab, der sie »in alle Wahrheit führt" (Joh 16,13).
NOTES
1.- Verfasser ist Professor an der Theologischen Fakultät der Universität. Ziel seines Beitrags ist es, das orthodoxe Verständnis der kirchlichen Paradosis zu vermitteln und einige Konsequenzen daraus für den ökumenischen Dialog aufzuzeigen. Anm. der Red.
2.- »Jenseits der organischen Rangfolge und obersten Verwaltungsstelle der Orthodoxen Kirche, welche die Ökumenische Synode ist, hat das wahre kirchliche Gewissen die letzte Entscheidungsgewalt über deren ökumenische Autorität, ohne über dem Rang der Ökumenischen Synode zu stehen« (Á. Alivisatos, Das Gewissen der Kirche, in: Wiss.Jahrbuch der Theol.Fak. der Univ. von Athen, 9 [1953-1954] 58-59). «Der ökumenische Charakter der Synode besteht nicht in der Teilnahme aller Bischöfe der christlichen Gemeinschaft, sondern in der Übereinstimmung der anwesenden, der vertretenen mit den abwesenden Bischöfen und den verschiedenen Gliedern der Kirche, wie auch in der nachträglichen Annahme ihrer Lehren von den übrigen Bischöfen und der ganzen Kirche, die als wahr befunden wurden" (Joh. Karmiris, Orthodoxe Ekklesiologie, Dogmatik, Teil V, Athen 1973, S.674).
3.- Siehe Êan.1 der 4., Êan.2 der 6., und Êan.1 der 7.Ökum.Synode. Mehr dazu: P.Boumis, Autorität und Kraft der hl.Kanones, Athen 1989<4>, S.12 f.
4.- Das griechische Wïrt für Regel »κανών" bedeutet ursprünglich: Stab; Lineal, mit dem wir eine gerade Linie ziehen, oder umgekehrt die Geradheit einer Linie überprüfen. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Wort auch Bestimmung oder Gesetz, allgemein alles, was als Vorbild oder Leitfaden zur richtigen Ausführung einer Handlung dient, oder als Kriterium zur Kontrolle ihrer Richtigkeit.
5.- Vgl.Ps. 118, 14. 138. 144. Siehe auch Êan.1 der 7.Ökum.Synode.
6.- Natürlich hat das Wort »einfach« hier nicht die Bedeutung einer Mißbilligung des Konservativen. Konservativ sind, wie wir gesehen haben, jene, die alle in der Kirche vorhandenen. Überlieferungen bewahren wollen. Aber diese Tendenz muß mit Vorsicht betrachtet werden, weil sie zwei widersprüchliche Elemente in sich birgt: ein positives und ein gefährliches. Positiv ist, daß sie alle schriftlichen und mündlichen Überlieferungen bewahren will, in denen zum gegebenen Zeitpunkt die Kirche die Lösung eines Problems finden kann, oder zumindest den Ánstïß zu einer solchen Lösung. Sie schließt aber auch die Gefahr in sich, den Menschen zu überfordern; denn sie will das ganze Gewicht dieser Überlieferungen tragen. So geschieht es manchmal, daß diese Überlieferungen in Widerspruch zueinander geraten, daß sie Christen erschüttern und Ánstïß erregen. Verlassen wir also den Anspruch, daß diese Überlieferungen unbedingt und ausnahmslos von allen Christen befolgt werden müssen; denn damit würden »schwere und untragbare Gewichte auf die Schultern der Menschen« (vgl. Mt 23, 4) gelegt.
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