Panagiotis Boumis
Die authentische Überlieferung der Kirche
Das Kriterium der Orthodoxie
1. Einleitung
Manchmal sagen wir, dieser oder jener Mensch denke, spreche oder handle nicht richtig. Oder wir sagen, daß jemand »unorthodox« sei. Wie kommen wir zu diesem Urteil? Und woher wissen wir, daß gerade unser Denken, unsere Worte oder unsere Handlungen richtig - oder im Sinne des griechischen Wortes - »orthodox« sind oder nicht? Oder genügt vielleicht allein der gute Wille,
»orthodox« bzw. richtig handeln zu wollen, um tatsächlich »orthodox« zu sein und richtig zu handeln? Ebenfalls sagen wir heute des tifteren, daß unsere Zeit von entscheidender Bedeutung sei. Warum sagen wir das? Warum ist sie so »entscheidend«? Was gibt ihr diese Bedeutung, und was bringt uns dazu, sie als entscheidend zu betrachten? Welches ist das Kriterium, der Ìaßstab unserer Gedanken, unserer Entscheidungen, unserer Handlungen, unserer »Zeit«?
Ìan sagt, das Kriterium sei unser Denken, unsere Vernunft, unsere Logik selbst. Wie aber kann denn unser Denken unsere Gedanken beurteilen, um festzustellen, ob sie richtig oder falsch sind? Und wie können wir wissen, ob unser Denken auch richtig funktioniert? Wer garantiert uns dafür? Und außerdem: Ist es denn richtig, daß der, der urteilt, auch gleichzeitig der Urteilsaßstab ist? Soll denn der Richter auch gleichzeitig Gesetzgeber sein? Und wenn dies geschieht, ist es dann sicher, daß er ein objektiver Gesetzgeber ist? Wird er etwa nicht Gesetze machen, die ubereinstimmen mit dem, was er entscheiden will? Und wird er damit nicht vielleicht oft auch gegen seinen Willen, in eine Diktatur, in einen Totalitarismus verfallen? Doch nehmen wir einmal an, er könnte dieser Versuchung widerstehen. Wie kann er sicher sein, daâ sein Denken und damit auch seine Gesetze richtig sind?
Diese und ähnliche Fragen entstehen in jedem Menschen - müssen in ihm entstehen. Jedenfalls haben wir das oft in interessanten Gesprächen mit jungen Leuten, Studenten und Wissenschaftlern erfahren. Deshalb kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß wir einen unfehlbaren Richter und unfehlbaren Urteilsmaâstab suchen und finden müssen, mit dessen Hilfe wir unsere Gedanken, unsere Worte, unsere Handlungen, die Ereignisse, die Zeiten usw. beurteilen können.
Wir stellen fest, daâ ein unfehlbarer Richter unmöglich unter den Menschen zu finden ist. Zunächst einmal ist der Mensch weder allweise noch allwissend, noch kennt er alles Geschaffene (Geschöpfe und Geschehnisse). Er kennt es nicht, weil er die Velt nicht geschaffen hat und unmöglich überall anwesend sein kann. Außerdem wurde durch die Sünde die »Gottesebenbildlichkeit« des Menschen befleckt und damit auch sein Geist, seine Logik, sein Wünschen und Wollen. Darüber hinaus läßt er sich von seinen Wünschen, seiner Umwelt, seinen Beziehungen usw. mitreißen oder zumindest beeinflussen. Diese ungünstigen Voraussetzungen haben negative Auswirkungen: ein Mensch kann nicht immer objektiv, richtig und gerecht urteilen und natürlich auch nicht entsprechend in der Gesetzgebung wirken.
Aus diesem Grund sind die menschlichen Gesetze nicht ewig und immergültig. Denn sie sind unvollkommen, fehlerhaft und unzulänglich. So andern sie sich ständig. Die Menschen bemühen sich zwar, immer richtigere, immer vïllkommenere zu schaffen. Weil sie aber unvollkommen sind, müssen sie ihnen vom Staat aufgenötigt werden. Oft nehmen die Menschen sie nicht an, billigen sie nicht, weil sie sie mit ihrer Logik beuerteilen und nicht richtig finden; und dann begehren sie auf und wehren sich gegen ihre Anwendung.
NOTES
1.- Verfasser ist Professor an der Theologischen Fakultät der Universität. Ziel seines Beitrags ist es, das orthodoxe Verständnis der kirchlichen Paradosis zu vermitteln und einige Konsequenzen daraus für den ökumenischen Dialog aufzuzeigen. Anm. der Red.
2.- »Jenseits der organischen Rangfolge und obersten Verwaltungsstelle der Orthodoxen Kirche, welche die Ökumenische Synode ist, hat das wahre kirchliche Gewissen die letzte Entscheidungsgewalt über deren ökumenische Autorität, ohne über dem Rang der Ökumenischen Synode zu stehen« (Á. Alivisatos, Das Gewissen der Kirche, in: Wiss.Jahrbuch der Theol.Fak. der Univ. von Athen, 9 [1953-1954] 58-59). «Der ökumenische Charakter der Synode besteht nicht in der Teilnahme aller Bischöfe der christlichen Gemeinschaft, sondern in der Übereinstimmung der anwesenden, der vertretenen mit den abwesenden Bischöfen und den verschiedenen Gliedern der Kirche, wie auch in der nachträglichen Annahme ihrer Lehren von den übrigen Bischöfen und der ganzen Kirche, die als wahr befunden wurden" (Joh. Karmiris, Orthodoxe Ekklesiologie, Dogmatik, Teil V, Athen 1973, S.674).
3.- Siehe Êan.1 der 4., Êan.2 der 6., und Êan.1 der 7.Ökum.Synode. Mehr dazu: P.Boumis, Autorität und Kraft der hl.Kanones, Athen 1989<4>, S.12 f.
4.- Das griechische Wïrt für Regel »κανών" bedeutet ursprünglich: Stab; Lineal, mit dem wir eine gerade Linie ziehen, oder umgekehrt die Geradheit einer Linie überprüfen. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Wort auch Bestimmung oder Gesetz, allgemein alles, was als Vorbild oder Leitfaden zur richtigen Ausführung einer Handlung dient, oder als Kriterium zur Kontrolle ihrer Richtigkeit.
5.- Vgl.Ps. 118, 14. 138. 144. Siehe auch Êan.1 der 7.Ökum.Synode.
6.- Natürlich hat das Wort »einfach« hier nicht die Bedeutung einer Mißbilligung des Konservativen. Konservativ sind, wie wir gesehen haben, jene, die alle in der Kirche vorhandenen. Überlieferungen bewahren wollen. Aber diese Tendenz muß mit Vorsicht betrachtet werden, weil sie zwei widersprüchliche Elemente in sich birgt: ein positives und ein gefährliches. Positiv ist, daß sie alle schriftlichen und mündlichen Überlieferungen bewahren will, in denen zum gegebenen Zeitpunkt die Kirche die Lösung eines Problems finden kann, oder zumindest den Ánstïß zu einer solchen Lösung. Sie schließt aber auch die Gefahr in sich, den Menschen zu überfordern; denn sie will das ganze Gewicht dieser Überlieferungen tragen. So geschieht es manchmal, daß diese Überlieferungen in Widerspruch zueinander geraten, daß sie Christen erschüttern und Ánstïß erregen. Verlassen wir also den Anspruch, daß diese Überlieferungen unbedingt und ausnahmslos von allen Christen befolgt werden müssen; denn damit würden »schwere und untragbare Gewichte auf die Schultern der Menschen« (vgl. Mt 23, 4) gelegt.
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